22.08.2002
Matthias Fuchs liest „Unschuld“
von Harold Brodkey
Diese Erzählung handelt davon, wie eine Frau ihre Gehemmtheit und Ungeschicklichkeit in eine Weltanschauung verwandelt hat – sie weigert sich, einen Orgasmus zu bekommen – und wie ihre Wehr durch das Geschick eines Mannes unterminiert wird, bis sie zusammenbricht. Dieses Einstürzen geschieht langsam, indem das letztlich doch gewonnene Hochgefühl der Studentin Orra nicht als plötzliches Explodieren entworfen wird – gerade ihre sich durch heftige Bewegungen auszeichnende Tigerhaftigkeit im Bett ist ein leicht durchschaubarer Trug –, sondern als eine Flut, welche sich in stimmliche und gestische Äußerungen ergießt.
Den zweistündigen Bericht des Mannes, der sich aus Liebe und Mitleid psychologisch und körperlich verrenkt, liest der Schauspieler Matthias Fuchs. Er spricht so eindeutig und klar, als gebe der Text die Inszenierung naturhaft vor, so überzeugend, dass es sich anders gar nicht denken lässt. Jeder Satz ist genauestens unterteilt worden in stimmliche Lagen, silbenweise gar, selbst die Atmer scheinen in ihrer wechselnden Intensität planvoll gesetzt zu sein, das Alternieren der Geschwindigkeiten folgt dem Charakter der Szenen scheinbar so zwingend, als sei kein Spielraum gewesen.
Einige wenige Pausen sind von schmerzlicher Intensität, weil sie ein wenig länger sind als erwartet. Und fast sind diese Pausen am schönsten: Wenn Matthias Fuchs innehält, wenn seine dunkle Stimme stoppt mit einem Aushauchen und plötzlich Stille einkehrt und dauert und sich derart Erwartung in Sehnsucht verwandelt, dass er weiterspricht.
Zweimal dem Hörbuch gelauscht und, was man gewöhnlich nicht tut, auf den Zusammenklang von Tempo, Stimmlage und Text geachtet, erschließt sich eine präzise Regie, welche Gabriele Kreis geführt hat. Der Text beginnt ja nicht im Bett. Harold Brodkey stellt das Personal und die Lebenswelt seines Zweipersonenstückes in nicht zu großer Ausführlichkeit, aber in wichtigen Zügen vor – und dieses interpretiert Fuchs leicht und flink und mit Verheißung –, bevor die beiden zu ficken beginnen und der Mann erkennt, wie vereinsamt, wie verwundbar, wie stolz, wie verkrüppelt, wie herrlich, wie unwissend, kurz, wie widersprüchlich die Studentin Orra ist, die behauptet, sie könne nicht kommen und wolle auch nicht. Jenen Abschnitten wiederum gibt Fuchs die ihnen zukommende Schwere. Trotz Orras sexueller Armseligkeit verliebt sich der Mann in sie. Sie sich auch in ihn. Daraus erwächst ihm eine Pflicht.
Für den Vorleser ist hier vieles zu tun: intellektuelle Reflexionen philosophischer und psychologischer Art, die Wiedergabe von Gesprächen mit Orra, die Darstellung des Sexes und wundervolle Beschreibungen von Licht, Gerüchen, Temperaturen und Orras Gesicht.
Matthias Fuchs zeigt sich als Großmeister der gesprochenen Literatur. Leider ist er am 1. Januar gestorben, ein Vierteljahr nach den Aufnahmen zu diesem wunderschönen Hörbuch.
MARTIN Z. SCHRÖDER