Interview

Stefan Kaminski

05.10.2023

Diese Lebendigkeit müssen wir mitnehmen

Berlin ist in diesem Roman ein wichtiger Schauplatz. Wie war es für dich, beim Einlesen des Hörbuches in unterschiedliche historische Zeiten deiner Heimatstadt versetzt zu werden?

Stefan Kaminski: Ich habe gar nicht so den Fokus auf Berlin gehabt beim Lesen, es war eher der gesellschaftliche Kontext und hier bei aller Emotion eben auch der historische Aspekt, den Alexander Osang sehr transparent und knapp beleuchtet.
Russland, Deutschland – Sowjetunion, DDR – Osten, Westen. Das ist genau die Spannung, mit der ich aufgewachsen bin. Ick aus dem Osten, Russischschule ab Klasse 3, der Große Bruder UdSSR, Pionier sein, FDJ, Mauerfall mit 15 Jahren – Westen – Große Freiheit …
Und bei Osang: 1905 bis 2017 – russische Geschichte vom Zarenreich über Lenin, Stalinterror bis zur Wende und dann einer neuzeitlichen „Demokratur“. Deutsche Geschichte vom Reich zur DDR zur Wende. Das fand ich faszinierend. Eine Reise, die ja auch die Hauptfigur mitmachen musste – unvorstellbar die Narben und Verluste, das bisschen Sonne dazwischen … ich musste an meine Oma Liesel denken, ach, könnte ich sie noch Fragen fragen!

Ist Oma Liesel denn ungefähr der gleiche Jahrgang wie Elena Silber, die Hauptfigur des Romans? Und was würdest du deine Oma heute fragen, wenn das noch ginge?

Stefan Kaminski: Meine Oma Liesel wurde 1897 geboren …

… also fünf Jahre früher als Elena Silber – könnte theoretisch deren ältere Schwester sein …Stefan Kaminski: Sie hat vier Gesellschaftssysteme mitgemacht, ebenso viele Währungen, jede Menge Entbehrungen, jede Menge Glück erlebt, und sie war ein herzensguter Mensch, der bis zum Schluss, 1984, rabenschwarzes Haar hatte, viel lachte, Weihnachten weinte, was mich wunderte und berührte. Ich würde mit ihr so gerne einmal wieder zusammensitzen und sie nach ihrem Leben fragen, nach allen Stationen, an die sie sich erinnern kann. Sie hatte einen lieben Mann, Rudi, den ich nie kennengelernt habe, und die Bilder von den beiden bringen mich heute immer noch zum Schmunzeln. Das war eine starke Frau, über die man sicherlich ein dickes Buch schreiben könnte

Hört sich definitiv nach einer nahen Verwandten von Elena Silber an! Stefan, fand eigentlich, da du in der DDR aufgewachsen bist, beim Einlesen permanent so eine Art gedanklicher Abgleich bei dir statt? Im Sinne von: Wie wird diese Zeit beschrieben – wie habe ich sie selbst erlebt? Und gab es da irgendwelche interessanten Überschneidungen für dich?

Stefan Kaminski: Ja. Ich hatte eine glückliche Kindheit in der DDR. Ich war 15, als die Mauer fiel, und das kam genau richtig. Ich musste nicht mehr gegen Mauern rennen, ich musste nicht mehr zur Armee, ich konnte mich vollkommen frei entwickeln. Aber das Russische spielte eine große Rolle damals, die russische Geschichte, die russisch-deutsche musste man irgendwie nachholen, da das natürlich alles Quatsch war mit dem Großen Bruder, wenngleich ich ’ne nette Brieffreundschaft hatte. Die Sache mit den Westpaketen, die Sehnsüchte damals, die Bücher, die Mosaikhefte, Platten, Gerüche, Geräusche – das streuselt Alexander Osang immer wieder ein und das ist mir sehr vertraut und berührt mich, weil es Kindheit war. Auch meine Kindheit. Wir gehörten aber nicht zur privilegierten Schicht wie die Familie in Osangs Roman, wir waren normale Norm: keen Auto, keen Telefon, keen Jarten, keene Westpakete. War trotzdem schön.

Der Mauerfall jährt sich dieses Jahr zum 30. Mal und ist für jüngere Menschen oft nur noch ein Kapitel aus dem Geschichtsbuch. Welche Rolle spielt deiner Meinung nach Literatur dabei, Geschichte lebendig zu halten?

Stefan Kaminski: Die größte! Ich lese gern mal wissenschaftliche Bücher über Geschichte neuerdings, weil ich wissen will und Zusammenhänge kennenlernen. Der beste Weg allerdings, um an vergangenen Zeiten anzudocken, ist menschlicher Bezug zu Figuren und deren Schicksalen. Ein Autor, der es schafft, intelligent, leicht und tiefgreifend Mensch und Zeit zu beschreiben, der sickert tiefer als eine Doku oder ein Artikel im Schulbuch. Alexander Osang hat hier einen großen Beitrag geleistet – sicher für sich selbst ebenso wie für den Leser, den Hörer – wie ihr sagt: es bleibt lebendig. Und diese Lebendigkeit müssen wir mitnehmen – in die Zukunft!

Was erwartet uns denn mit dem fertigen Hörbuch, worauf dürfen wir gespannt sein, worauf können wir uns freuen?

Stefan Kaminski: Natürlich wird das hier ein besonderes Hörbuch in der Reihe meiner Lieblingslesungen werden. So wie ich es bei Thomas Brussig oder Vladimir Sorokin oder, oder, oder gehalten habe, lese ich mit Herz und Hingabe. Ich werde in die Figuren dringen mit dem Wunsch, sie wahrhaftig werden zu lassen. Ich werde mich dem Parlando von Alexander Osang hingeben und genießen. Ich werde selbst Gänsehaut kriegen beim Lesen. Und dann soll das rüberwachsen zu den Hörern. Freut euch auf interessante Figuren, auf ein Eindringen in eine Zeit, die ihr euch schwer vorstellen könnt, auf eine Reise durch Landschaften: menschliche und historische.

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