Ich musste mich mit dem befassen, was der Fiktion vorausgeht – mit der Realität.

Romy Hausmann

Mit den versammelten Fallerzählungen in ihrem neuen Hörbuch »True Crime. Der Abgrund in dir« führt Romy Hausmann den Beweis an, dass niemand auch nur annähernd so bizarre Verbrechen schreiben kann wie das Leben. In einfühlsamen Gesprächen mit Angehörigen und Opfern, Tätern und Ermittlern, mit renommierten Richtern, Forensikern, Medizinern und Traumaexperten spürt sie den Fragen hinter dem Offensichtlichen nach. Die Ergebnisse dieser Gespräche verdichtet sie zu einer sehr persönlichen Tagebucherzählung über die Macht der Gefühle von Opfern und Hinterbliebenen, zerstörte Leben und den Versuch, einen Abschluss zu finden. 

Im Interview hat sie uns spannende Einblicke in ihre Arbeit zum neuen Hörbuch gegeben.

Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen.

Romy Hausmann2

Die »The Sunday Times« nennt Sie eine der besten Thrillerautor*innen Deutschlands, mit Ihrem Thrillerdebüt »Liebes Kind« setzten Sie sich 2019 sogleich an die Spitze der deutschen Spannungsliteratur. Nun haben Sie sich zum ersten Mal mit wahren Verbrechen beschäftigt. Wie kam es dazu und was hat Sie daran gereizt?

Romy Hausmann: Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der die Welt begreifen will, und Schreiben ist das Werkzeug, das ich dafür benutze. Deswegen geht es in meinen Thrillern ja auch weniger um Blut und Gemetzel als vielmehr um sehr menschliche Themen und Fragen. Trotzdem schreibe ich als Thrillerautorin natürlich auch ein Stück weit über Dinge, von denen ich – glücklicherweise – keine Ahnung habe. Ich denke, jeder Mensch, der sein Schaffen ernstnimmt, gerät dann irgendwann zwangsläufig an einen Punkt, an dem er sich selbst reflektiert: Ist es eigentlich in Ordnung, was ich da mache? Ich denke mir Verbrechen zu Unterhaltungszwecken aus, während die echte Welt nur so strotzt vor schrecklichen Geschichten. Was maße ich mir da eigentlich an, aus der Perspektive von Opfern und Hinterbliebenen zu schreiben, wenn ich nicht annähernd weiß, wie es sich anfühlt? Ich hatte das Bedürfnis, mich selbst – aber auch meine Leser*innen und Hörer*innen – daran zu erinnern, dass solche Geschichten, wie wir sie zum Spaß auf der Sonnenliege oder auf unseren geschützten Balkonen konsumieren, irgendwo auf der Welt wirklich spielen, dass da echte Menschen und echte Schicksale dahinterstecken. Um das zu erreichen, gab es für mich nur einen Weg: Ich musste mich mit dem befassen, was der Fiktion vorausgeht – mit der Realität.

Neben Oliver Kube und Heike Warmuth übernehmen Sie im Hörbuch zum ersten Mal eine Sprecherinnenrolle, zusätzlich haben Sie seit dem 10. August einen True-Crime-Podcast mit Mark Benecke. Was reizt Sie am Medium Audio?

Romy Hausmann: Ich glaube, es ist die Verfügbarkeit: zum Lesen muss man immer noch irgendwie in Stimmung sein und zudem auch die Gelegenheit haben, aber Hören geht überall und unter jeden Umständen, zum Beispiel auch beim Autofahren oder beim Kochen. Oder beim Einschlafen! Ich persönlich liebe es, beim Einschlafen einen Podcast oder ein Hörbuch laufen zu lassen. Da wird wahrscheinlich irgendetwas Wohliges aus der Kindheit aktiviert, als die Eltern am Bett saßen und einem eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt haben.

Dass ich zum ersten Mal selbst mit an einem Hörbuch beteiligt bin, hat allerdings einen anderen Grund: Das Buch besteht – neben den Fallerzählungen und Interviews – auch aus einem Tagebuchstrang – und dieser Strang ist so persönlich und ungefiltert, dass es seltsam gewesen wäre, wenn jemand „Fremdes“ ihn gelesen hätte. Überhaupt ist das ganze Buch sehr, sehr echt und emotional geworden – ich denke, wir haben es geschafft, dieses Gefühl auch als Hörerlebnis zu transportieren, und das macht mich wahnsinnig glücklich.

(Hinweis: Das Buch ist beim dtv Verlag erschienen, den Podcast gibt es überall zu hören, wo es Podcasts gibt.)

True Crime Buch

Was haben Sie für sich aus den Recherchen zu den Fällen mitgenommen? Was hat sie besonders beeindruckt oder überrascht?

Romy Hausmann: Solange man erst mal nur die Fälle recherchiert, ist da immer auch noch ein Stück weit Distanz, denn Recherche ist ja rein journalistische Arbeit, ein Zusammentragen von Fakten und Zitaten, ein Aufbau von Chronologie und Struktur. Aber sobald man sich dann mit den Menschen auseinandersetzt, die an den einzelnen Fällen beteiligt waren, gerät man schnell an einen Punkt, an dem sich die Dinge plötzlich persönlich anfühlen und auch sehr, sehr wehtun können.

Meine heftigste Erfahrung habe ich mit Natalie gemacht. Natalie ist eine Mutter aus Australien, deren Tochter Phoebe vor elf Jahren als 24-Jährige unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Ursprünglich wollte ich nur ein Interview mit Natalie führen, doch daraus ist eine E-Mail-Brieffreundschaft entstanden, die sich über ein halbes Jahr zog. Natalie hat mir Einblicke gewährt wie noch niemandem zuvor, sie hat mir von Phoebes Leben erzählt, bis ich das Gefühl hatte, sie wirklich zu kennen. Als wir dann zu ihrem Tod kamen, war es, als verlöre ich eine Freundin. Das war unglaublich schmerzhaft, und das Gefühl der Hilflosigkeit hat mich fast verrückt gemacht – zumal man in Phoebes Fall nicht alle Ungereimtheiten, die in Zusammenhang mit ihrem Tod standen, aufklären konnte. Ich habe Natalie (und auch Phoebes Großvater Lorne, der ausgerechnet ein pensionierter Polizist ist) über ein halbes Jahr lang begleitet – und konnte letztlich doch nichts für sie tun, außer ihnen zuzuhören.

Was mich am meisten beeindruckt hat? Die Menschen, mit denen ich sprechen konnte. Da sind zum einen Menschen wie Natalie und Lorne, aber auch Leute wie Steve Haymes, ein ehemaliger Bewährungshelfer aus Missouri, durch dessen Hilfe es gelang, den Serienmörder John Edward Robinson zu überführen. Ich habe per E-Mail halb Missouri abgegrast, um an Steves Kontakt zu kommen und mich mit ihm unterhalten zu können.

Ich glaube, das war eine der schönsten Erfahrungen für mich beim Schreiben dieses Buchs: dass ich auf so viel Aufgeschlossenheit und Gesprächsbereitschaft gestoßen bin. Auch die versammelten Expert*innen waren unheimlich geduldig mit mir. Zum Beispiel der großartige Dr. Frank Ochberg aus den USA. Er ist 82 Jahre alt und eine Koryphäe im Bereich der Traumaforschung. Er hat mit seiner Expertise schon das FBI und Scotland Yard unterstützt, außerdem ist er DER Spezialist zum Thema „Stockholm Syndrom“. Mit ihm durfte ich telefonieren, und es war eines der besten Telefonate meines Lebens. Denn abgesehen von dem Wissen, was er mit mir geteilt hat, hat er mir noch zwei sehr wichtige Sätze mit auf den Weg gegeben: „Sie, Romy, und Ihre schreibenden Kolleg*innen sind wichtig, gerade in Zeiten von Finsternis, Zerstörung und Realitätsverleugnung. Nutzen Sie Ihre Chance, andere zu inspirieren!“ Das hat mich unheimlich bewegt, vor allem auch, weil man als Autor*in prädestiniert ist für Selbstzweifel. Man fragt sich oft, ob das gut genug ist, was man tut, denkt an die Außenwirkung seiner Geschichten und möchte nicht selten einfach alles hinschmeißen. Frank hat mich daran erinnert, warum ich überhaupt jemals mit dem Schreiben begonnen habe, und warum ich tue, was ich tue. Das werde ich ihm nie vergessen.

Romy Hausmann, 1981 geboren, war Redaktionsleiterin bei einer Münchner Fernsehproduktion. Dort hat sie mit zahlreichen Menschen gearbeitet und von deren Leben erzählt: von misshandelten Ehefrauen, somalischen Kriegsflüchtlingen, vernachlässigten Kindern. Mittlerweile arbeitet sie frei fürs Fernsehen und schreibt regelmäßig für den Blog www.mymonk.de. Im Februar 2019 veröffentlichte sie »Liebes Kind«, ihr Thrillerdebüt, das gleich nach Erscheinen an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste stürmte und mit dem Crime Cologne Award 2019 ausgezeichnet wurde. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart.

True Crime. Der Abgrund in dir
Romy Hausmann
Gelesen von Heike Warmuth

SPIEGEL-Bestsellerautorin Romy Hausmann – Nichts ist so grausam wie die Wirklichkeit 

Mit den hier versammelten Fallerzählungen führt Romy Hausmann den Beweis, dass kein Thrillerautor auch nur annähernd so bizarre Verbrechen schreiben kann wie das Leben. In einfühlsamen Gesprächen mit Angehörigen und Opfern, Tätern und Ermittlern, mit renommierten Richtern, Forensikern, Medizinern und Traumaexperten spürt sie den Fragen hinter dem Offensichtlichen nach. Die Ergebnisse dieser Gespräche verdichtet sie zu einer sehr persönlichen Tagebucherzählung über die Macht der Gefühle von Opfern und Hinterbliebenen, zerstörte Leben und den Versuch, einen Abschluss zu finden. 

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