Hörbuchtipp
Nino Haratischwili: »Das mangelnde Licht«
05.10.2023
Ein Hörbuchtipp von Sprecherin Simone Kabst
»Das mangelnde Licht« – ein so passender Titel, der sich beim Hören immer mehr erschließt.
Wie sind wir doch abhängig vom Licht, das uns wärmt, die Dinge um uns herum beleuchtet, uns erhellt, unsere Stimmung beeinflusst. Was passiert mit uns, wenn das Licht fehlt, wenn es uns an den alltäglichen Dingen mangelt, wie Brot, Heizmaterial oder menschliche Nähe? Was, wenn Freundschaft zu unserer Sonne wird?
Im Hörbuch »Das mangelnde Licht« tauchen wir ein ins Georgien – in „das gesegnete Land“ – der 1990iger Jahre, in die Zeit nach dem Ende des kalten Krieges.
Wir dürfen uns mit der Ich-Erzählerin Keto gemeinsam erinnern, an eine Kindheit im Hinterhof von Tbilissi, an schrullige Nachbarn, an Überlebenskünstler des sozialistischen Alltags, an zarte Mädchenfreundschaften, an skurrile Feste mit ersten Küssen, an die Macht von Familienbanden und an die ersten Schritte heraus aus der Jugend ins „wahre Leben“.
Vier Mädchen, so unterschiedlich, wie man es sich nur vorstellen kann, befreunden sich in diesem Hof und teilen Schulstunden, unternehmen erste gemeinsame Ausflüge in ihrer Heimatstadt, machen Unsinn, teilen Sorgen und stehen füreinander ein. Doch eines Tages dann passiert das Unfassbare: Wie soll ein Mord, der vor den eigenen Augen geschieht, verarbeitet werden, integriert ins eigene Dasein?
Die Autorin Nino Haratischwili hat einen Teil ihrer eigenen Kindheit in Tbilissi erlebt. Sie schildert die Stadt und die Mentalität ihrer Bewohner so lebendig, dass in mir während des Lesens der starke Wunsch aufkam, diese Stadt sofort besuchen zu müssen.
Was diese vier Mädchen auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden durchleben, in einer Zeit des politischen Umbruchs, hat mich stark bewegt. Die Zeit nach der Maueröffnung habe ich als „Kind der DDR“ als große Möglichkeit für eine persönliche Zukunft erleben dürfen: freie Berufswahl, leben wie und wo ich will, reisen ohne Beschränkungen, materielle Fülle, Selbstbestimmung. All das müssen Keto und ihre Freundinnen sich erkämpfen, teils mit Erfolg, teils ohne.
Nino Haratischwili schafft so lebendige Figuren, voller Widersprüche und Eigenheiten. Man entwickelt große Sympathien für sie, schüttelt den Kopf über ihr Verhalten, leidet, fiebert und freut sich mit ihnen. Die Dialoge sind sehr plastisch geschrieben, so dass ich beim Einlesen des Romans den Figuren leicht Leben einhauchen konnte. Eine große Freude war das.
Ihre Geschichten sind aber auch eine Geschichte über Emanzipationsvorgänge: Wie grenze ich mich ab von überholten Traditionen, von falschen Vorstellungen der Familienehre? Wie kann ich meinen eigenen Lebensweg finden in Bezug zur Gesellschaft, in der ich lebe?
Das Licht dieses Romans ist groß, es hat mich erhellt, die Figuren haben mich erwärmt. Der letzte Satz heißt: „Es ist hell geworden.“ Und genau so ist es.