Ein Hörbuchtipp von Lea Warnke (Lektorin)
In den letzten Jahren vor seinem Tod entwarf er eine Rittergeschichte. Drei Kapitel tippte er fein säuberlich ab. Fertig wurde Raubritter Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe jedoch nicht. Roman Hocke, langjähriger Freund und Lektor des Autors, entdeckte das Fragment im Nachlass – und nun ist aus dem Fragment ein Buch geworden!
Wieland Freund, vielfach ausgezeichneter Kinderbuchautor und mit Michael Endes Romanen aufgewachsen, hat die Fäden der Geschichte aufgenommen und weitergesponnen. Wie ein Puppenspieler hält er die Fäden in der Hand und lässt die Figuren ihre Geschichte spielen: „Die Puppen, die in Papa Dicks Puppenwagen baumeln, haben mir den Weg gewiesen. Sie waren der Schlüssel dazu, die Geschichte weiterzuerzählen“, sagt Wieland Freund. Er habe versucht, nichts dazuzuerfinden, was nicht schon in der Geschichte steckte, die Figuren so zu entwickeln, wie sie im Fragment bereits angelegt waren – und das ist ihm wahrlich gelungen! Als ich den Text zum ersten Mal gelesen habe, wusste ich nicht, wo Michael Endes Fragment endete, wo Wieland Freund die Fäden übernommen hat. Die Erzählfäden der beiden Autoren sind so fein miteinander verwoben, dass mir unerkennbar erschien, wo der eine Puppenspieler die Marionetten an den anderen übergeben hatte. Ich war begeistert, da war ein wahrer Schatz gehoben worden!
Und nun kommt noch ein dritter Puppenspieler hinzu, denn aus dem Buch ist ein Hörbuch geworden: Christoph Maria Herbst, beliebter Michael Ende-Sprecher und im jüngsten Jim Knopf- Film ein bezaubernder Herr Ärmel, leiht den Figuren all seine Stimmen, erweckt sie zum Leben, spielt mit ihnen. Vielstimmig und so wie wir ihn lieben: voller Leidenschaft für die verschiedenen Charaktere, ein bisschen verrückt, aber immer präzise und auf den Punkt – wer ihm bei seinem Spiel ein wenig zuschauen will, kann hier einen Blick hinter die Kulissen werfen.
Aber Moment, hinter welche Kulissen eigentlich? In welchem Stück befinden wir uns denn grad, ja wo sind wir denn eigentlich?! „Mitten im finsteren Mittelalter, an einem Mittwoch und obendrein noch um Mitternacht …“
Wir befinden uns also im finsteren Mittelalter und lernen Knirps kennen. Und der findet: Nirgendwo ist es langweiliger als zu Hause im fahrenden Puppentheater seiner Eltern. Also reißt er aus, um beim berüchtigten Raubritter Rodrigo Raubein in die Lehre zu gehen. Auf seinem Abenteuerweg begegnet der Möchtegernknappe allerhand echtem Rittergeschichten-Personal: einer Prinzessin und einem König, einem Medicus, einem bösen Zauberer und sogar einem wahrlich gefährlichen Drachen – und natürlich dem (gar nicht mal so gefährlichen) Raubritter persönlich. Alles schon mal dagewesen? Absolut nicht, denn hier ist nichts und niemand, wie es scheint …
So wusste also nicht nur Michael Ende nicht, wohin seine Geschichte führen wird. Und vermutlich hat er erst recht nicht geahnt, dass aus ihr einmal eine Hommage an seine Fabulierkunst würde – und ein Zusammentreffen zweier wunderbarer Erzähler, die sich im echten Leben nie begegnet sind. Aber was ist schon das echte Leben gegen das Reich der Fantasie?
